Als wir in diesem Jahr damit begannen, genuin digitale Archivbestände unter die Lupe zu nehmen und zu prüfen, wie wir die Daten künftig für Nutzer_innen zugänglich machen können, erwarteten wir vor allem die üblichen Daten: Word-Files, Excel-Tabellen, PDFs, E-Mails und ein paar Fotos. In den Nachlässen von Musikerinnen und Komponisten tauchten jedoch bald spezielle Probleme auf – Kompositionssoftware, Notensatzprogramme, Synthesizertools. Die Daten, die damit erstellt wurden, reichen zurück in die 1980er und 1990er Jahre, als MacOS Classic sehr verbreitet war. Die Umwandlung dieser Daten in Formate für moderne Betriebssysteme und Tools – die sogenannte Migration – ist nicht ohne Informationsverlust möglich. Einen kleinen Eindruck des möglichen Funktionsumfangs eines modernen Notensatzprogramms (Finale) vermittelt beispielsweise folgendes Video auf Youtube.

Der Funktionsumfang des von uns zu prüfenden Programms MOTU Professional Composer war nicht minder gross. Hürdenreich war vor allem die Frage, wie dynamische Elemente erhalten werden sollen, um Nutzer_innen das Look-and-feel zeigen zu können. Der einzig gangbare Weg: Emulation.
Eine Emulation auf den Punkt gebracht ist ein Programm, das auf einem modernen Computer einen viel älteren Computer virtuell nachbildet. Diese Nachbildung ist umfassend: Wir sagen dem Programm nicht nur, welches Betriebssystem es ausführen muss, sondern auch, mit welcher Hardware das Betriebssystem arbeiten soll, wieviel Speicher zur Verfügung steht, welche Software wir auf dem Betriebssystem installieren möchten. So steht schlussendlich auf einem modernen Asus-Laptop mit Sechskern-Prozessor (2,2 GHz) und 16 GB Arbeitsspeicher ein Macintosh II mit Mac OS Classic Version 5 von 1987 bereit, mit sagenhaftem 16-MHz-Prozessor (natürlich nur ein Kern) und 1 MB Arbeitsspeicher.
Populär ist der Begriff Emulation vor allem, wenn es um die (Wieder-)Nutzbarkeit alter Videogames geht, doch sind Emulationen auch in anderen Bereich verbreitet, bspw. zum Testen neuer Software, zur Entwicklung hardwarenaher Tools, zur Identifizierung von Malware in sicherer Umgebung, aber in unserem Bereich auch zur Langzeitarchivierung von digitalen Objekten (wie Spezialsoftware, digitale Kunst oder wissenschaftliche Simulationen).

Natürlich ist es für uns in der Bibliotheks-IT nicht möglich, selbständig verschiedenste Emulationen zu entwickeln und zu betreuen und vor allem langfristig lauffähig und aktuell zu halten. Dafür gibt es zum Glück international verschiedenste Initiativen und Experten, die sich mit dem Thema beschäftigen und Emulationen als Service oder Open Source anbieten. So entwickelte bspw. die DNB in den Jahren 2014 bis 2016 im Projekt EMiL (Emulation of Multimedia objects in Libraries) einen Prototypen für eine Bereitstellungsumgebung auf Emulationsbasis. Sie stützten sich dabei auf ein früheres Projekt von der Universität Freiburg i.Br. (bwFLA – Emulation as a Service). Solche Infrastrukturen kommen heute an verschiedenen Orten zum Einsatz und werden vielfältig weiterentwickelt. Aktuell läuft bspw. beim Software Preservation Network ein Projekt mit der Yale University: «Scaling Emulation as a Service Infrastructure (EaaSI)».
So schön die Emulationen auch sind, der Aufbau ist nicht einfach. Ist mit den oben genannten Projekten eine gute Infrastruktur vorhanden, so sind diverse Stolpersteine bei Softwarelizenzen und Installationsdateien zu erwarten. Darf ich dieses alte Windows-System überhaupt einsetzen? Muss ich dafür eine Lizenz bei Microsoft lösen? Ist das überhaupt noch möglich? Wie beantwortet sich dieselbe Frage bei Apple? Oder bei Betriebssystemen und Software von Firmen, die heute gar nicht mehr existieren? Gibt es die Installationsdateien noch? Was ist über Plattformen wie eBay zu bekommen?
Zum Glück gibt es im Internet eine rege Bastlercommunity und viele Nostalgiker, die umfangreiche Plattformen mit Softwaresammlungen, Anleitungen, Tipps und Foren pflegen. Auch in diversen Kellern verbergen sich noch Schätze, die uns weiterhelfen. Die Beschäftigung mit diesem Thema ist zwar fordernd, sie bringt aber auch ansprechende visuelle Ergebnisse und führt gleichzeitig etwas zurück in die (eigene) Vergangenheit.
beat.mattmann@unibas.ch