Martha Pfannenschmids Illustrationen für die Heidi-Ausgaben im Silva Verlag und ihre Rezeption. Ein Gastbeitrag von Anna Lehninger, Kunsthistorikerin, Zürich.
Zwei Bände zu Johanna Spyris Heidi, die der Silva-Bilderdienst in den 1940er-Jahren herausgab, haben die schweizerische Heidi-Rezeption über Jahrzehnte geprägt. 121 Illustrationen der Basler Illustratorin Martha Pfannenschmid (1900-1999) konnten seit 1944 als Sammelbilder durch den Kauf bestimmter Produkte für den ersten Band Heidi. Lehr- und Wanderjahre erworben werden. Es handelte sich um ein gleichermassen erzieherisches, ästhetisches wie auch ein kommerzielles Projekt des «Silva-Bilderdienstes», zu dem sich verschiedene Schweizer Unternehmen zusammengeschlossen hatten. Mit dem Kauf einer Tafel Schokolade oder einer Flasche Limonade wurden auch Sammelpunkte erworben, welche gegen die Bilder getauscht wurden. Diese wurden wiederum in die separat gekauften Bücher eingeklebt und bildeten mit dem Text das eigentliche Buch. 1946 folgte der zweite Band Heidi kann brauchen was es gelernt hat, ebenfalls mit 120 Bildern von Pfannenschmid zum Sammeln und Einkleben.
Der Nachlass Martha Pfannenschmids in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel gibt Einblick in das Schaffen der Illustratorin, die viele Jahre als Laborantin im Basler rechtsmedizinischen Institut unter anderem anatomische Darstellungen von Leichen schuf, als Illustratorin für verschiedene Auftraggeber tätig war und auch mit ihren Bildern für die Kinderseite der Basler National-Zeitung oder für den Schweizer Beobachter weitreichende Bekanntheit erlangte. Auf der Rechtsmedizin gestaltete Pfannenschmid unter anderem 53 Lehrtafeln für die Studierenden mit Darstellungen von Todesursachen von Ertrinken bis Verbrennen oder verschiedene Formen von Blutspuren.
Interessant ist der aufwendige Entstehungsprozess der Heidi-Illustrationen. Ihre Recherchen führten Pfannenschmid nach Graubünden wo sie sich intensiv mit der Berg- und Pflanzenwelt befasste, aber auch im Rätischen Museum in Chur Möbel, Kleidung, Werkzeuge und andere Alltagsgegenstände studierte, um in den Bildern ein authentisches Bild aus Heidis Lebenswelt zu vermitteln. Belegt sind diese Arbeiten neben den Skizzenbüchern in ihren Handexemplaren der Silva-Bände mit kleinen eingeklebten schwarz-weissen Fotografien der Skizzen. Daneben vermerkte Pfannenschmid in winzigen Bleistiftnotizen Herkunft und Motiv der jeweiligen Darstellung sowie Änderungen für die ausgeführten Bilder. Im ersten solchen Blindband fehlen zwar die meisten Bilder bis Nummer 51, der zweite Band ist hingegen fast vollzählig bestückt und erlaubt so einen aufschlussreichen Einblick in die Arbeitsweise der Illustratorin. Ein Umschlag mit Skizzen und verworfenen Bildern erlaubt, im Vergleich mit den ausgeführten Sammelbildern Entwicklungslinien in der Bildfindung der Künstlerin nachzuzeichnen (Abb. 1).

In zwei kleinen Kisten befinden sich schliesslich die Originalaquarelle Pfannenschmids zu den Heidi-Bildern, kaum grösser als die gedruckten Sammelbilder selbst. Ihre zarte Linienführung und nuancierte Farbgestaltung wurden, wie sich im direkten Vergleich zeigt, nur ansatzweise in die gedruckten Bildchen übertragen. Jede Zeichnung ist in einem kleinen Passepartout eingeklebt, in das auch die zum Bild gehörige Textzeile geschrieben wurde. So steht zu einer Darstellung des in einer Wiese liegenden und einen davonhüpfenden Frosch beobachtenden Heidi (Abb. 2) zu lesen: «(ohne gezielte Textstelle) Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu erleben waren…» (Heidi 1944, S. 38). Kompakter und zugleich narrativer lässt sich Heidis Liebe zu ihrer Umwelt wohl kaum in Wort und Bild fassen.

Ergänzt wird der Bestand an Aquarellen durch Skizzenbücher, Korrespondenzen mit dem Verlag, der Druckerei und «Fans» sowie die bereits genannten zwei Blindbände. In diesen wenigen Dokumenten wir der intensive und aufwendige Schaffensprozess greifbar, in dem Pfannenschmid sich 1944 dem Heidi-Thema annäherte.
Die beiden Heidi-Bände waren ein durchschlagender Erfolg und wurden mehrfach neu aufgelegt sowie in andere Sprachen übersetzt. Auch dort wurden die Illustrationen hoch gelobt, wie im Educatore dell Svizzera Italiana für die italienischsprachige Ausgabe unter dem Titel: «Una magnifica edizione del Servizio figurine Silva di Zurigo.» («Heidi di Giovanna Spyri», in: L’Educatore della Svizzera Italiana. Organo della Società «Amici dell’Educazzione del Popolo», Jg. 88, Heft 7-8, Lugano, 31. August 1946, S. 93-94, hier S. 93). So schwärmte der Autor der Rezension: « ‹Silva› ha cercato lungamente un pittore che sapesse illustrare questa Heidi vera e semplice.” (Ebenda, S. 94). Es waren Wahrhaftigkeit und Einfachheit, die man in der Schweiz in einer bildlichen Umsetzung des Heidi suchte und in Pfannenschmids Illustrationen gefunden hatte.
Doch nicht jeder verehrte das Silva-Heidi. So widmete der 1953 geborene Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer 2017 in seinen Jugenderinnerungen Silva ein ganzes Kapitel. Jedoch beschrieb er (neben dem aufwendigen «Herstellungsprozess» für die Leserschaft, welche die Bilder erst sammeln und dann einkleben musste) nicht, wie sehr er dieses Heidi mochte, sondern:
«Silva-Bücher waren großformatige Bücher mit viel Text und Illustrationen. (…) Es gab auch Heidi 1 und 2, ein Buch, das ich nicht sonderlich mochte, auch wenn ich immer wieder darin blätterte; ganz gelesen habe ich es nie. Berge und Ziegen, Ziegenhirten und Großväter widerstrebten mir. Ich war nur glücklich, wenn ich Heidi nach Frankfurt begleiten konnte, wo sie im Nachthemd auf die Straße trat und durch die nächtliche Großstadt irrte. Dafür nahm ich das strenge Fräulein Rottenmeier gern in Kauf.» («Silva», in: Alain Claude Sulzer, Die Jugend ist ein fremdes Land, Berlin: Verlag Galiani, 2017, S. 136-138, hier S. 137)
In Erinnerung sind ihm die Bände jedoch über Jahrzehnte hinweg geblieben, wie sie auch in Form einer Transferierung in das Medium des Films weiterentwickelt und neu interpretiert wurden. Denn Pfannenschmids Illustrationen formten nicht nur das Bild von Heidi in der Schweiz, sondern dienten unter anderem auch als Inspirationsquelle für die bekannte japanische Fernsehserie, die seit 1974 den Heidi-Mythos fortschrieb. Die Darstellung der Alp, der dort lebenden Figuren, der Natur, und insbesondere des Heidi selbst waren massgebliche Orientierung für Regisseur Isao Takahata und Zeichner Hayao Miyazaki, die Anfang der 1970er-Jahre zu Recherchen in die Schweiz reisten. Sie kannten nachweislich Martha Pfannenschmids Illustrationen und verwendeten sie als Vorbilder für die Serie (HEIDI. Production Artists at Work, Tokyo: The Tokuma Memorial Cultural Foundation for Animation, 2005, S. 30-31).
Vom 17. Juli bis 13. Oktober 2019 spürt eine Ausstellung im Landesmuseum Zürich dem Phänomen «Heidi in Japan» nach. Im Rahmen der Ausstellung findet von 29. bis 31. August 2019 in Zürich ein internationales Symposium zur Rezeption der japanischen Animeserie statt, in der auch Martha Pfannenschmids Illustrationen in einem Vortrag genauer untersucht werden.
Dr. Anna Lehninger
Links:
https://www.nationalmuseum.ch/d/microsites/2019/Zuerich/Heidi.php
https://www.khist.uzh.ch/de/chairs/ostasien/Aktuelles/Heidi.html