Verstörende Neue Welt – Dystopien auf den Spuren von Margaret Atwood

Als vor ein paar Wochen die Longlist des Booker Prize bekannt gegeben wurde, staunten manche Leute nicht schlecht. Unter den Nominationen ist ein Buch, das noch gar nicht erschienen ist, aber doch schon sehnlichst erwartet wird: The Testaments, Margaret Atwoods Fortsetzung zum Dystopia-Klassiker The Handmaid’s Tale, ist im Rennen um den begehrten Preis, obwohl das Buch erst am 10. September herauskommt.

Um die Wartezeit bis zum Erscheinen von The Testaments noch etwas zu überbrücken – oder für all diejenigen, die noch anderen Lesestoff suchen, bis Atwoods Fortsetzung an der UB zur Ausleihe bereitsteht – möchte ich hier noch einige weitere ausgezeichnete Dystopien und postapokalyptische Zukunftsvisionen empfehlen, darunter ein Klassiker und vier kürzlich erschienene Werke, die die UB zu bieten hat und welche vielleicht noch nicht in aller Munde sind, es aber definitiv sein sollten.


Rose Macaulay. What Not (1918) – Signatur: UBH AOe 44470

Vor gut 100 Jahren zum ersten Mal erschienen, befasst sichdieser Vorreiter der dystopischen Literatur mit der Frage, wie sehr sich der Staat ins Privatleben einmischen darf: Nach dem Ersten Weltkrieg werden die Menschen vom «Ministry of Brains» in verschiedene Intelligenzklassen (von A – C, sowie «unclassified») eingeteilt und dürfen – wenn überhaupt – nur innerhalb gewisser Klassen heiraten und sich fortpflanzen. Propaganda und «Fake News» in den Medien tragen das Ihre dazu bei. In dieser Gesellschaft kommt es zu der verbotenen Beziehung zwischen der A-klassifizierten Kitty Grammont und dem aufgrund seiner Familiengeschichte unklassifizierten (und deshalb heirats-unbefugten) «Minister of Brains», Nicholas Chester. Wer bis jetzt nur Huxleys Brave New World und Orwells 1984 kennt, entdeckt hier, wo diese zwei Klassiker des Genres ihre Inspiration gefunden haben.


Naomi Alderman. The Power (2016) – Signatur: UBH AOe 43092

In einer beeindruckenden Zukunftsvision stellt sich Alderman durch die Linse von sechs Hauptfiguren die Frage, was passiert, wenn Frauen und Mädchen plötzlich elektrische Ladungen über ihre Hände abgeben können – vom kaum merkbaren Kitzeln bis hin zu Stromschlägen, die stark genug sind, Leute zu töten – und damit selber zum «starken Geschlecht» werden. Was im ersten Teil des Buches noch als Ermutigung für Frauen und Mädchen gilt, selbstbewusster zu handeln und für Gleichberechtigung einzustehen, kippt in der zweiten Hälfte schnell in ein Albtraum-Szenario um, wenn Macht buchstäblich in die falschen Hände gelangt. The Power gewann 2017 den Baileys Women’s Prize for Fiction.


 Louise Erdrich. Future Home of the Living God (2018) – Signatur: UBH AOe 44285

In einer nicht allzu fernen postapokalyptischen Zukunft, in der die biologische Evolution stoppt oder sogar zurückgeht und schwangere Frauen «eingesammelt» und zu Fortpflanzungszwecken eingesperrt werden, schreibt Cedar Hawk Songmaker ihre Geschichte nieder in Form von Tagebucheinträgen an ihr ungeborenes Kind. Zwischen Vorfreude auf ihr Kind, dem Wunsch, ihre biologische Familie kennenzulernen und der ständigen Bedrohung, geschnappt zu werden, versucht Cedar in einer Welt klarzukommen, in welcher niemand genau weiss, wer auf welcher Seite steht, was vor sich geht und wo man Neues nur durch Gerüchte und Munkeln erfährt.


Sophie Mackintosh. The Water Cure (2018) – Signatur: UBH AOe 43797

Auf einer kleinen einsamen Insel wachsen die Schwestern Grace, Lia und Sky unter der strengen Erziehung von ihrem Vater – der von ihnen nur King genannt wird – und ihrer Mutter auf. Völlig abgeschnitten von der Welt, die laut King verseucht und vergiftet ist, müssen sich die Schwestern Tag für Tag den bizarren Immunisierungs- und Abhärtungsritualen von King unterziehen. Eine Erziehung, die so tief verankert ist, dass die Mutter damit weitermacht, als King plötzlich verschwindet. Die Autorin setzt in dieser Geschichte von drei Schwestern, die fernab der Gesellschaft aufwachsen, das Konzept der «toxischen Männlichkeit» wortwörtlich um und schaffte es 2018 damit auf die Longlist des Man Booker Prize.


Leni Zumas. Red Clocks (2018) – Signatur: UBH AOe 44043

Was beim Erscheinen noch eine Dystopie war, ist mittlerweile schon gefährlich nahe an der Realität. Red Clocks spielt in einem Ort im Pazifischen Nordwesten einer USA, in der Abtreibung und In-vitro-Fertilisation illegal sind, und Adoption bald nur noch (heterosexuellen) Paaren offensteht. Die Geschichte folgt einer High-School-Schülerin, die ungewollt schwanger wird; ihrer Lehrerin, die alleinstehend ist, aber unbedingt ein Kind haben möchte; deren Freundin, welche in einer zerrütteten Ehe gefangen ist; und einer Eigenbrötlerin und Kräuterfrau aus dem Dorf, die sich in einer modernen Hexenverfolgung wiederfindet. Zwischen den Kapiteln folgen die Lesenden Ausschnitten der von der Lehrerin verfassten Biografie einer färöischen Polarforscherin aus dem 19. Jahrhundert, welche den Lesenden so noch eine indirekte fünfte Perspektive bietet. In poetischer Sprache geht Zumas’ Roman der Frage nach, was es heisst, eine Frau zu sein.


Selbstverständlich ist das hier nur eine kleine Auswahl an Titeln in diesem unglaublich vielseitigen Genre. Ich freue mich deshalb sehr über Ihre weiteren Empfehlungen – gerne auch in anderen Sprachen – in den Kommentaren.

johanna.schuepbach@unibas.ch

 

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