Im 19. Jahrhundert wurde «das Reisen» nicht erfunden. Menschen bereisten schon immer spezifische Orte und Regionen der Welt – Herodot beschrieb Asien, Pilger wanderten und wandern noch immer nach Compostela, Adlige bereisten ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert Italien auf ihrer Grand Tour. Und um ein Bonmot des Historikers Attilio Brilli zu nehmen, war «das Reisen» in der Zeit vor Easyjet und Eurocar eine hohe Kunst: Es lauerten Wegelagerer und korrupte Geldwechsler an alle Ecken und Enden, das Strassennetz war nicht nur schlecht ausgebaut, sondern an manchen Stellen schlicht unbefahrbar. Was heute Smartphone, Tankstellen, Raststätten und Steckdosen für den Reisenden erledigen, das waren früher Herbergen und Pferdestationen. Ja, man darf durchaus sagen, dass Reisen noch vor 100 Jahren wahrlich eine Kunst war.
Erfunden wurden im 19. Jahrhunderts hingegen die ersten kommerziellen Reiseführer im modernen Sinn. Hatten Goethe, Byron und viele weitere Schriftsteller ihre Reiseerlebnisse mit einem vorwiegend literarischen Anspruch niedergeschrieben, war es John Murray, der die ersten klassischen Reiseführer verfasste, sogenannte Handbooks for Travellers. Kleine, handliche Büchlein mit allerlei grundlegenden Hinweisen und Tipps (Kurzbeschreibungen von Orten, empfehlenswerten Herbergen, Sitten und Bräuche sowie von schönen Museen und Gedächtnisorten). Ebenfalls gab Murray in seinen Handbooks for Travellers (und dies ist besonders wichtig im Zeitalter vor der Kreditkarte) Wechselkurse für Währungen an.
John Murray, Basel und die UB Basel
Murray stammte aus einer äusserst vermögenden Verlegerdynastie, da sein Verlag exklusive Autoren publizierte, darunter Jane Austen, Lord Byron oder Charles Darwin. 1836 kam John Murray auf die Idee, er könne Reiseführer zusammen mit einem Stab von Mitarbeitern publizieren. Bereits 1838 entstand das A Handbook for Travellers in Switzerland and the Alps of Savoy and Piedmont, including the Protestant valleys of the Waldenses. Und der Blick hinein in das Buch lohnt sich – die praktischen Hinweise des Autors geben Aufschluss über den Alltag des Reisenden, der den Weg ins Alpenland auf sich nahm. Auch mit bösen Worten über die angeblich schlechte Schweizer Küche und über korrupte Zöllner geizt der Autor nicht. Murray warnt in seinem Buch besonders vor den unzähligen Währungen, die in der Schweiz damals kursierten. Zugleich erfahren wir zu Beginn, dass zur Schweiz vor Murrays Travellers Books erst ein ähnlicher Fremdenführer existierte! Ein Hinweis darauf, wie der Alpentourisumus im 19. Jahrhundert populär wurde.
Als Ausgangsort für eine mögliche Route durch die Schweiz nennt Murray Basel. Dass Basel in vielen Reiseberichten der Neuzeit Eingang fand, verdankt es seiner verkehrsmässig günstigen Lage sowie seinen schon früh bekannten Sehenswürdigkeiten. Gleich am Anfang der Beschreibung nennt Murray das Trois Rois ein «good inn, but expensive». Es folgt ein historischer Abriss, sowie Beschreibungen zu wichtigen Bauten. Dann wird gleich in der Folge die UB Basel erwähnt:
«(…) the Public Library, containing 50’000 volumes – among them, the Acts of the council of Bâle, 3 Vol., with chains attached to the building, many important MSS., of wich there is a good catalogue, and a few of the books of Erasmus (…). There are autographs of Luther, Melanchthon, Erasmus and Zuinglius.”
Dass die UB bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. zugleich Museum war, wird deutlich, wenn Murray im selben Atemzug mit der Bibliothek auch die Bilder von Holbein und weitere Artefakte aus der Antike nennt, die heute in den verschiedenen Museen ausgestellt sind. Das Gästebuch der UB, welches seit 1662 auflag und in das sich unzählige Besucher aus dem In- und Ausland eingetragen haben, verdeutlicht Murrays Eindruck dieser «Wunderkammer» nochmals. Aber auch kulinarische Anmerkungen kommen bei Murray nicht zu kurz: Darunter das sogenannte «Schweizer Blut», angeblich der beste Wein in der Region Basel, gemacht aus Trauben, die beim ehemaligen Schlachtfeld St. Jakob wachsen.
Murrays Reiseführer waren so erfolgreich, dass sich mancher zahlungsunfähige Gast selbst als Murray ausgab, und so dem Wirt den besten Wein und das beste Essen gratis abluchste – man wollte sein Gasthaus ja nicht negativ in der nächsten Ausgabe des Travellers Book finden… Noch spektakulärer ist der Fall der Stadt Murten. Ihr stellte Murray in einer späteren Auflage kein wirklich gutes Zeugnis aus. Als die Besucher aus England ausblieben, beschwerte sich die Regierung bei Murray, er möge die entsprechende Passage bitte streichen.
Neil Jones auf den Spuren von Murrays Reisebericht

Der Reiseführer von Murray findet heute noch Interesse. Kürzlich erhielt die UB Besuch von Neil Jones aus Manchester, der es sich zum Ziel gemacht hat, die von Murray beschriebene Route mit dem Velo nachzufahren und dabei die auf der Strecke liegenden Sehenswürdigkeiten aufzusuchen. Jones hält seine Erlebnisse in einem Blog fest und plant ein Buch über seine Reise auf Murray’s Spuren. Wie sein alter ego aus dem 19. Jahrhundert bewunderte auch Neil Jones während seines Besuchs auf der UB die von Murray beschriebenen Manuskripte, bevor er wieder aufs Velo stieg, um die 1838 vorgezeichnete Route weiter zu verfolgen. Gute Fahrt, Neil!
noah.regenass@unibas.ch und lorenz.heiligensetzer@unibas.ch
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Dorothea Trottenberg | Fachreferentin Slavistik und Osteuropa-Studien
Universität Basel | Universitätsbibliothek
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