Wieso wir offene Bibliotheken so vermissen (oder der Ort unbegrenzter Möglichkeiten)

Man hat es noch nie erlebt, eine solche Quarantäne, inklusive Schliessung von Geschäften, Kaffees, Universitäten, usw. Selbstverständlich sind auch die Bibliotheken zu, was überaus schmerzhaft, aber leider unumgänglich ist. Das Verlangen der Nutzerinnen und Nutzer, die Lesesäle und Magazine wieder zu betreten, ist in den verwaisten Räumen beinahe greifbar und die Vorfreude auf eine volle UB ist bei allen gross. Der Moment einer leeren UB ist hingegen günstig, um im Blog zwei viel diskutierte Fragen von Bibliothekswissenschaftlern kurz und knapp zu präsentieren, die da lauten:

  1. Was machen Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer eigentlich in einer Bibliothek?
  2. Wie definiert man den Bibliotheksraum?

Zur ersten Frage: Diese wirkt auf den ersten Blick gänzlich überflüssig. Na, was macht man wohl in einer Bibliothek: Lesen, Lernen, Bücherholen. Aber ist das wirklich alles? Überdenkt man nur kurz, was man selbst schon alles in einer Bibliothek gemacht hat, fallen jedem unzählige Tätigkeiten ein: Man trifft sich mit Freunden, bespricht ein Referat, manche schreiben ihre Abschlussarbeiten, trinken einen Kaffee, lösen Kreuzworträtsel, warten auf die nächste Vorlesung, schlafen noch eine Runde, usw. Letztlich also, so sagen Soziologen, wissen wir nicht, was Nutzerinnen und Nutzer in einer Bibliothek alles tun. Der Raum bietet unendliche Möglichkeiten!

Was machen Menschen eigentlich in Bibliotheken? So lautet eine Frage, womit sich Soziologinnen und Soziologen immer wieder beschäftigen.

Und dies führt uns direkt zur zweiten Frage, jene zur Definition des Bibliotheksraums. Zur Beantwortung dieser Frage, müssen wir zurück in die 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts. Damals zog der Soziologe Ray Oldenburg nach Pensacola, einer verschlafenen Stadt in Amerika. Oldenburg bemerkte auf dem Weg nach Hause, zwischen Uni und daheim, dass ihm etwas fehlte: Ein Ort in Gehdistanz, wo man ungezwungen ein Bier trinken kann, alleine, zu zweit oder zu dritt, wo man einen Blick in die Zeitung oder ein Buch wirft, Smalltalk führt, oder einfach abhängen will (wie man heute, knapp 40 Jahre später sagen würde). Oldenburg blieb also nicht untätig: Er baute seine Garage kurzerhand in eine Bar um. Und die Leute in seiner Nachbarschaft liefen ihm die Bude ein. Oldenburg schrieb darauf sein berühmtes Werk: The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart Community. Darin nennt er einen solchen Treffpunkt «third place», also «Dritter Ort». Dieser definiert sich dadurch, dass er allgemein zugänglich sowie weder ganz privat, noch wirklich öffentlich ist. Zu guter Letzt sollte er mit Konsum verbunden sein. Man muss Oldenburg in seiner Analyse zustimmen; solche Orte sind ungemein wichtig für eine Gesellschaft. Insbesondere während der Quarantäne bemerken wir erst, wie gern wir „Dritte Orte“ besuchen und schätzen.

Der aufmerksame Leser wird nun gleich bemerken, dass Bibliotheken nicht genannt sind. Bibliotheken als „Dritten Ort“ zu bezeichnen, wäre nämlich nicht ganz korrekt. Denn obwohl Bibliotheken alle Qualitäten des «Dritten Orts» aufweisen, verlangen sie trotzdem nicht nach Konsum! Sie sind per se losgelöst von jedem Zwang. Diese unendlich vielen Qualitäten und Facetten machen eine Bibliothek zusammen mit der Informationsversorgung zu einem elementaren, unverzichtbaren Ort für die Gesellschaft. Eine Bibliothek ist eben noch mehr als ein «Dritter Ort». Somit kommen wir auf die Ausgangsfrage zurück: Was machen Menschen in Bibliotheken? Nun, wir wissen es nicht, freuen uns aber darauf, wenn die Nutzerinnen und Nutzer nach dem Lockdown wiederkommen, an jenen Ort, den wir mangels Alternativen einfach als Bibliothek bezeichnen!

noah.regenass@unibas.ch

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