Nutzen und Risiken der kommerziellen und wissenschaftlichen Datennutzung

Weltweit nutzen Personen jeden Alters, aus allen sozialen Schichten auf intensive Weise die vielfältigen und attraktiven Dienstleistungen der modernen digitalen Welt. Die elektronischen Daten, die Nutzende dabei hinterlassen, sind sowohl für kommerzielle als auch für wissenschaftliche Zwecke sehr begehrt. Weder in dem einen noch in dem anderen Bereich ist jedoch die Sammlung und Nutzung solcher Daten frei von Risiken.

Nutzen und Risiken der kommerziellen Datennutzung

Niemals waren die Gedanken und Gefühle von Menschen sichtbarer, hörbarer und messbarer. Nicht nur die sprichwörtlichen Narren tragen ihr Herz auf der Zunge. Zweiundachtzig Prozent der schweizerischen und auch der deutschen Bevölkerung nutzen soziale Netzwerke und Messenger Apps. Die Relevanz und der Wert dieser Dienste für die Nutzenden kann kaum bezweifelt werden. Kürzlich rief der Ausfall der Kommunikationsdienste des Facebook-Konzerns für wenige Stunden so grosse Verzweiflung hervor, dass einige Nutzende in Deutschland sogar den Notruf wählten. Weltweit dominierte das Ereignis über mehrere Tage hinweg die Schlagzeilen.

82% Der Schweizerinnen und Schweizer nutzen soziale Netzwerke und Messenger Apps. Doch wie ist es um die Datensicherheit bestellt? In kommenden Lounge-Talk an der UB Basel wird u.a. darüber diskutiert.

Digitale Fussspuren

Diese und andere attraktive Dienstleistungen werden jedoch nicht kostenlos angeboten. Nutzende räumen den digitalen Dienstleistenden das Recht ein, Informationen über das Nutzungsverhalten zu sammeln und kommerziell weiterzuverwenden. Im Durchschnitt sind Personen in Mitteleuropa 5.5 h am Tag mit elektronischen Geräten online. Die Informationen, die die Nutzenden dabei willentlich preisgeben, sind nur ein kleiner Ausschnitt ihrer elektronischen Fussspuren. Digitale Dienstleistende sind dazu berechtigt, viele Aspekte unserer Aktivitäten weiterzuverwenden, derer wir uns oftmals nicht bewusst sind. Geteilte Ton- und Bildaufnahmen bilden ab, wie wir unsere Umwelt betrachten. Jegliche Aktivität im Internet – von der Rezeptsuche bis hin zu Online-Dating-Apps – beschreiben unsere persönlichsten und intimsten Verhaltensweisen, Fragen, Gedanken und Vorlieben. Soziale Hintergründe lassen sich durch unsere Finanztransaktionen ableiten. Für reibungslosen Zahlungsverkehr führen wir Einkäufe und Bankgeschäfte online aus, zur Finanzoptimierung registrieren wir unsere Ausgaben. Selbst unsere Gesundheit lässt sich aus unseren digitalen Fussspuren ablesen. Um fit zu bleiben, überwachen wir unsere körperliche Aktivität, unser Schlaf- und Essverhalten. Zu diesen recht eindeutigen Informationen kommen noch eine Reihe von Spuren hinzu, die erst in ihrer Kombination ein klares Bild ergeben. Fitness-Tracker messen Schwankungen im Puls und in der Körpertemperatur. Ebenso wie die Stimmmodulation können diese Werte als Anhaltspunkte für Erregung und Affekt dienen. Abweichungen in der Tipp- und Reaktionsgeschwindigkeit können auf Konzentrations- und Gedächtnisstörungen hinweisen, inkohärente Sprachmuster auf Einschränkungen im Denken. Forschende schätzen, dass im Jahr 2025 Nutzerinnen und Nutzer an jedem Tag bewusst oder unbewusst durchschnittlich 62 Gigabyte an auswertbaren digitalen Daten produzieren.

Einwilligungen zur Datennutzung

Angesichts der Menge und Vielfalt dieser Spuren überrascht es, wie freigiebig und sorglos wir mit all diesen Daten umgehen. Studien zeigen, dass nur ein winziger Bruchteil von Personen, ca. 1% aller Nutzerinnen und Nutzer, Aufklärungstexte zu Nutzungsbedingungen von Online-Services und Webseiten bewusst lesen, bevor sie ihre Einwilligung erteilen. Vor die Wahl gestellt zwischen dem Verzicht auf attraktive Dienstleistungen und der Einwilligungen zur Datennutzung und Datenweitergabe entscheiden sich die meisten Nutzer für die Datenveräusserung, ohne auch nur einen Bruchteil der Nutzungsvereinbarung gelesen zu haben. Eine der Hauptursachen liegt im Zeitaufwand, den es bedeuten würde, die langen und komplexen Texte über die Sammlung, Verschlüsselung, Speicherung, Verknüpfung und Weitergabe von Daten zu lesen, und diese mit den massiven Verbraucherrechten abzugleichen, die sich aus Schweizer und Europäischem Recht ergeben. Forschende nehmen an, dass jeder Mensch im Durchschnitt ca. 40 Minuten am Tag aufwenden müsste, um die Nutzungsbedingungen jeder zum ersten Mal besuchten Webseite, genau zu verstehen.

Versteckte Kosten

Intransparente oder ausufernde Nutzungsbedingungen sind jedoch nicht ausreichend, um den sorglosen Umgang mit Daten vollständig zu erklären. Obwohl manches kommerzielle Beispiel zeigt, dass Nutzende durchaus sensitiv für Datenschutz sind und Bezahlmodelle dem Datenveräusserungsmodell vorziehen, so bevorzugen dennoch die meisten Nutzenden die scheinbar kostenlose Alternative. Nutzende scheinen die Risiken, die sich aus der Verknüpfung von mehreren Datensätzen aus unterschiedlichen Quellen ergeben, nicht als Kosten zu interpretieren. Dies stellt womöglich eine verkürzte Sichtweise dar. Die psychologischen Profile, die sich aus grossen Datensammlungen ergeben, werden zielgerichtet für Werbezwecke eingesetzt. Im Rahmen des sogenannten psychographic targeting werden die digitalen Fussspuren aus verschiedenen digitalen Quellen verknüpft, um daraus psychologische Profile abzuleiten. Die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen erfolgt dabei umfassender, objektiver und wesentlich weniger aufwändig als jede traditionelle psychologische Diagnostik. In einem nächsten Schritt werden dann Werbebotschaften gezielt auf die vermuteten Eigenschaften von Verbraucher:innen zugeschnitten. Trotz einiger wissenschaftlicher Studien zu persönlichkeitsgerechter Werbung, z.B. zum Kauf von Kosmetikartikeln, ist bislang jedoch noch weitestgehend unklar, inwieweit auch wichtige Ereignisse, wie Wahlentscheidungen, tatsächlich durch solch gezielte Werbung beeinflusst wurden und werden. Es erscheint jedoch plausibel, dass im Rahmen der zunehmenden Vernetzung aller Lebensbereiche sowohl die psychographische Profilerstellung als auch die daraus abgeleiteten Werbemassnahmen effizienter werden. Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur können über Jahre zurückverfolgt werden. Spezifische Ereignisse wie Nutzungs- und Kaufentscheidungen können mit vorangegangenen psychologischen Merkmalen, wie z.B. Lebenszufriedenheit assoziiert werden. Dies sind wichtige Hinweise darauf, wer wann für gezielte Werbung besonders anfällig sein könnte.

Eigenverantwortung

Die Nutzung attraktiver Online-Dienste erkaufen wir uns also dadurch, dass wir den Mitarbeitenden von international agierenden Firmen und Konzernen Einblick in die eigene Persönlichkeitsstruktur und -dynamik gewähren. Im günstigsten Fall erhalten wir dadurch speziell auf unsere Bedürfnisse zugeschnittene Dienstleistungen. Im ungünstigsten Fall lassen wir uns durch Werbebotschaften davon überzeugen, Entscheidungen zu treffen, die uns nicht guttun. In jedem Falle reduziert sich jedoch etwas, das man als Serendipität bezeichnet, nämlich die Chance, aufgrund von glücklichen Zufällen und Entdeckungen, komplett unvorhergesehene Entwicklungswege einzuschlagen. Man kann argumentieren, dass man sowohl das Lesen der Nutzungsbedingungen als auch die Abwägung hinsichtlich der daraus entstehenden Folgekosten mündigen Verbraucher:innen überlassen kann. Streng genommen involvieren jedoch viele Fussspuren, die wir in sozialen Netzwerken hinterlassen, ebenfalls Informationen über andere Personen, die niemals die Gelegenheit bekommen haben oder werden, ihre Einwilligung zur Datennutzung zu erteilen. Es ist beispielsweise ein rechtlicher Graubereich, ob meine Kommentare über andere Personen in meinem Social-Media-Profil von Anbietern weiterverwertet werden dürfen, ohne die Rechte dieser Personen zu verletzen.

Nutzen und Risiken der wissenschaftlichen Datennutzung

Während der Datenaustausch im kommerziellen Bereich oftmals sehr kritisch betrachtet wird, wird die gemeinsame Nutzung von Daten im akademischen Bereich beinahe ausschliesslich positiv bewertet. Die Open-Science-Praxis, d.h. der freie Austausch von Forschungsdaten und Forschungsresultaten, soll das Forschungstempo beschleunigen und die Generierung neuer Themen und Fragen anstossen. Gleichzeitig sollen Ressourcen gespart werden, indem deckungsgleiche Forschung vermieden wird. Studierende könnten so durch eine leichtere Zugänglichkeit zu hochwertigen Daten früh an die Forschung herangeführt werden. Durch die Reduktion unnötiger Forschungsprojekte soll auch die Belastung der Forschungsteilnehmenden verringert werden. Der transparente Datenaustausch soll zudem die wissenschaftliche Stringenz und Redlichkeit und dadurch ebenfalls die Replizierbarkeit wissenschaftlicher Befunde stärken.

Gesundheitsdaten

In kaum einem wissenschaftlichen Bereich ist der Austausch von Daten mit mehr Hoffnungen assoziiert als in der Medizin. Der Austausch von hochwertigen anonymisierten Informationen, z.B. aus elektronischen Patient:innendossiers, soll nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene die Erkenntnisse über Krankheitsverläufe erweitern, sowie die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen beschleunigen. Die Daten sollen direkt auch Menschen auf individueller Ebene helfen, ihren Gesundheitszustand adäquat zu verstehen und mit Krankheiten besser umzugehen. Gesundheitsprobleme sollen früher erkannt und Behandlungen effektiver und kosteneffizienter auf die Besonderheiten der einzelnen zu behandelnden Person abgestimmt werden. Auch alltägliche Datenspuren können für die Gesundheitsförderung genutzt werden. Im psychiatrischen Bereich versuchen Forschende über Smartphone-Daten ein sogenanntes digital phenotyping von Auffälligkeiten zu erreichen. Dabei werden aktuelle Smartphone-Daten und Veränderungen in den Nutzungsmustern über die Zeit dazu verwendet, um die Diagnose von psychiatrischen Auffälligkeiten zu untermauern und die Verlaufskontrolle während der Therapie zu erleichtern.

Anonymität von Forschungsdaten

Während Probleme im kommerziellen Bereich primär aus Datenschutzperspektive betrachtet werden, wird im wissenschaftlichen Bereich auch das entgegengesetzte Problem diskutiert, nämlich die mangelnde oder unfaire Datenzugänglichkeit. Ein barrierefreier Zugang für alle öffentlich finanzierten Forschungsdaten wird hier als Idealziel formuliert. Dies bedeutet, dass das Auffinden, der Zugang, die Verknüpfung und Nutzung von Forschungsdaten für jede interessierte Person ohne spezifische Privilegierung möglich sein sollte. Doch auch in wissenschaftlichen, nicht-kommerziellen Bereichen ist der freie Datenaustausch nicht frei von Risiken. Klassische Problemfelder, wie Selbstbestimmtheit und Anonymität sind auch im Wissenschaftsbereich sensible Themen. Schätzungen gehen davon aus, dass mit einigen wenigen Hintergrundinformationen wie Geburtstag, Geschlecht und Postleitzahl ca. 90% der amerikanischen Bevölkerung mithilfe eines der öffentlich verfügbaren Datensätze identifiziert werden kann. Trotz des hohen Datenschutzstandards in der Schweiz und in der Europäischen Union lässt sich eine kriminelle De-Anonymisierung von wissenschaftlichen Datensätzen kaum ausschliessen. Die Anzahl an Cyberattacken hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Obwohl die meisten dieser Attacken kommerziellen Unternehmen gelten, werden auch zahlreiche akademische Einrichtungen weltweit mit Angriffen konfrontiert, bei denen nicht selten sensible Daten von Forschenden gestohlen werden.

Automatisierte Ungleichbehandlung

Ein Problem der freien Datennutzung scheint in der Wissenschaft und insbesondere der Medizin sogar problematischer zu sein als in kommerziellen Bereichen. Aufgrund der Häufung bestimmter gesundheitlicher Risiken und Probleme in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen müssen Vorhersagemodelle für typische Zielvariablen im Gesundheitsbereich, wie z.B. die Notwendigkeit einer Intensivbehandlung, ebenfalls individuell angepasst werden. Insbesondere für kleinere, marginalisierte Gruppen wären solche Modelle weniger akkurat als für Angehörige grösserer und sichtbarerer Gesellschaftsgruppen. Medizinische Vorhersagemodelle gingen schlimmstenfalls für kleinere Gruppen mit einer deutlich reduzierten Sensitivität einher. Auch das Problem gehäufter Fehldiagnosen in einzelnen gesellschaftlichen Gruppen kann durch einen intensivierten Datenaustausch nicht gelöst werden. Sprachliche Probleme und kulturelle Unterschiede sind die wahrscheinlichen Ursachen für gehäufte Fehldiagnosen innerhalb von gesellschaftlichen Minderheiten. Werden beim Training eines Diagnosealgorithmus digitale Gesundheitsdaten mit solchen Fehldiagnosen verknüpft, so setzen sich solche Probleme nach dem Prinzip «garbage in, garbage out» weiter fort. Und dennoch lässt sich argumentieren, dass künstliche Intelligenzen selbst bei unzureichenden oder verzerrten Trainingsdaten für einzelne marginalisierte Gruppen mutmasslich fairere Urteile fällen als menschliche Diagnosen.

Veranstaltungshinweis

Sowohl im kommerziellen als auch im wissenschaftlichen Bereich gehen die intensive Datenerhebung und der freie Datenaustausch mit erheblichen Chancen aber auch mit vorhersehbaren Risiken einher. Jeder Einzelne wie auch die Gesellschaft als Ganzes scheint dazu aufgerufen zu sein, abzuwägen, wie viel Risiko tragbar ist, um gleichzeitig, die vielfältigen Chancen der Digitalisierung nutzen zu können. Universitätsbibliotheken mit ihrem Anspruch Informations-, Daten- und Medienkompetenz zu vermitteln, können hier wichtige Hilfestellungen leisten.

In diesem Rahmen lädt die Universitätsbibliothek Basel für den 28.10.2021, 18 Uhr zu einem Lounge-Talk zum Thema „Nutzen und Risiken kommerzieller und wissenschaftlicher Datennutzung“ ein. 

In 90 Minuten werden vier Expert:innen die wissenschaftliche und kommerzielle Nutzung von Daten aus möglichst verschiedenen Perspektiven diskutieren. Dabei werden die Chancen und Risiken, die mit dem freien Austausch digitaler Spuren einhergehen, objektiv gegenübergestellt.

Folgende Personen werden an der Diskussion teilnehmen:

Dr. Javier Andrés Bargas-Avila; Principal User Experience Researcher, Google

Anna-Marie Bertram; Vorsitzende der Fachgruppe Psychologie und Mitglied des Studierendenrats der Uni Basel

Dr. Katrin Crameri; Direktorin des Datenkoordinationszentrums des Swiss Personalized Health Network (SPHN)

Danielle Kaufmann; Datenschutzbeauftragte der Universität Basel

Moderation: Dr. Robin Segerer; Fachreferent für Psychologie der UB Basel

Folgende Themen werden diskutiert: (1) Was ist das Potenzial der freien Datennutzung im wissenschaftlichen und kommerziellen Bereich? (2) Was ist Wunsch und Wirklichkeit bei Transparenz, Datensicherheit und Rechenschaftspflicht? (3) Was sind reale Befürchtungen, die mit dem freien Datenaustausch einhergehen?

Dr. Robin Segerer, Fachreferent für Psychologie, Universitätsbibliothek Basel (robin.segerer@unibas.ch)

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