„Die Meldungen lassen sich nicht unabhängig überprüfen …“ – so heisst es häufig am Schluss hiesiger Nachrichten und Medienberichte über den Krieg in der Ukraine.
Im Zeitalter von Internet und digitaler Technologie ist meist nicht der Zugang zu Informationen und Bildern das Problem, sondern deren Überprüfung auf Authentizität und Wahrheitsgehalt – was in diesem Krieg, der in Russland als solcher nicht bezeichnet werden darf, auch eine Frage von Perspektive und Propaganda ist. „Ich empfehle Ihnen dringend, mal ein paar Tage russisches Fernsehen zu schauen. Und dann konsultieren Sie Ihren Psychiater“, sagt die russische Journalistin und Anwältin Maria Eismont am 13. März in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS). In der Tat werden die offiziellen russischen Staatsmedien, allen voran das Fernsehen, von wirkmächtigen Narrativen dominiert, die denen der Ukraine diametral entgegenstehen und die einen in eine Parallelwelt versetzen.
Die ohnehin wenigen unabhängigen Medien in Russland wurden verboten oder haben spätestens seit dem neuen Gesetz, nach dem die Verbreitung von „fake news“, also angeblichen Falschinformationen über die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden kann, ihre Arbeit eingestellt. Dazu gehören die kremlkritische Radiostation Echo Moskvy (dt. Echo von Moskau) und der Fernsehsender Dožd (dt. Regen). Aus dem Ausland tätige russischsprachige Medien wie Meduza sind in Russland nicht mehr im Internet zugänglich, ebenso youtube, Twitter oder andere Social Media; der vorläufig letzte Schritt ist die am gestrigen Montag 14.03. verhängte Sperre für Instagram.


Das fast einzige noch funktionierende unabhängige Medium ist derzeit die Novaja gazeta (dt. Neue Zeitung), deren Chefredakteur Dmitrij Muratow 2021 Träger des Friedensnobelpreises war. Die Redaktion arbeitet weiter, ist allerdings – wie ein rotes Banner auf der Homepage https://novayagazeta.ru/ informiert – „gezwungen, eine Reihe von Materialien zu löschen“ und das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine zu vermeiden. Ein Link auf die Zeitung sowie auf andere unabhängige russische und ukrainische Medien findet sich in unserer News-Meldung vom 3. März. Auch das Menschenrechtsportal OVD-Info, das unter anderem laufend die Zahl der Verhaftungen im Zusammenhang mit Protesten gegen den Krieg auf seiner Homepage https://ovdinfo.org dokumentiert, kann momentan noch arbeiten.
Der Krieg in der Ukraine hat ein Land in den Brennpunkt des medialen Interesses gerückt, das für viele hierzulande terra incognita ist. Wer sich über die Tagesaktualität hinaus informieren möchte, findet in der UB umfangreiche Bestände an wissenschaftlicher Literatur zur Ukraine. Neben der spezialisierten Forschungsliteratur empfehlen sich die folgenden Titel als lesenswerte Überblicks- und / oder Einstiegslektüre:
Der Historiker Andreas Kappeler ist der deutschsprachige Ukraine-Kenner. Seine Kleine Geschichte der Ukraine ist ein Standardwerk zur Geschichte der Ukraine – sie ist in mehreren Auflagen in der UB vorhanden und im Netz der Uni Basel auch Online verfügbar.
Zwei andere Bücher von Andreas Kappeler beschäftigen sich mit der komplizierten und im Moment so beklemmend aktuellen Beziehung von Russen und Ukrainern: Russland und die Ukraine: Verflochtene Biografien und Geschichten sowie Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
In seinem Buch Die neue Ukraine berichtet der renommierte Ukraine-Spezialist Gerhard Simon über Gesellschaft, Wirtschaft und Politik im ersten Jahrzehnt der ukrainischen Unabhängigkeit 1991-2001.
Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel ist ein exzellenter Kenner der Ukraine und erzählt in Entscheidung in Kiew: Ukrainische Lektionen von Begegnungen mit Menschen und Städten, die er bereist hat und die uns heute als Schauplätze des Krieges täglich mit bedrückenden Bildern in den Nachrichten begegnen: Kiew, Odessa, Mariupol, Cherson, Charkiw …..
Der Historiker Georgiy Kasianov, der 2017 als Fellow von «Ukrainian Reasearch in Switzerland (URIS)» an der Uni Basel weilte, ist Mitherausgeber des Sammelbandes From „the Ukraine“ to Ukraine: a contemporary history, 1991-2021, der die Entwicklung der unabhängigen Ukraine in Politik, Kultur und Gesellschaft beleuchtet.
Die wohl beste derzeit verfügbare englischsprachige Geschichte der Ukraine ist The Gates of Europe von Serhii Plokhy, dem Direktor des Ukrainischen Forschungsinstituts der Harvard University.
NB: Umfragen und Analysen aus der bzw. über die Ukraine aus den letzten Jahren – etwa zum Zusammenhalt des Landes, zu Differenzen der Regionen, zur Haltung gegenüber Russland und dem Westen und vielem mehr – bietet der kostenlos online zugängliche Ukraine-Digest mit seinen ausführlichen und fundierten „Länderanalysen“ (www.laender-analysen.de/ukraine).
Neben Forschungsliteratur sammelt die UB auch literarische Werke ukrainischer Autorinnen und Autoren, von denen in den letzten Jahren erfreulich viel übersetzt wurde. Diese neuere ukrainische Literatur beschäftigt sich mit ihrem Land und seinen Problemen, mit seiner Geschichte (und gerade mit dem Verhältnis zu Russland) und seiner jüngsten Entwicklung. Einige Stimmen waren auch 2014 in Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht versammelt.
Einen Eindruck vom breiten Spektrum der ukrainischen Gegenwartsliteratur bieten die folgenden Titel (oder auch andere Bücher dieser Autorinnen und Autoren):
- Jevhenija Bjelorusec: Glückliche Fälle
- Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther
- Jurij Andruchovyč: Karpatenkarneval
- Serhij Žadan: Hymne der demokratischen Jugend oder Die Erfindung des Jazz im Donbass und andere Titel
- Sofija Andruchovyč: Der Papierjunge
- Oksana Zabužko: Museum der vergessenen Geheimnisse
- Tanja Maljarčuk: Blauwal der Erinnerung
- Andrej Kurkov: Graue Bienen
- Natalia Sniadanko: Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Grossvater wurde
- Oleksij Čupa: Märchen aus meinem Luftschutzkeller
So entpuppt sich die terra incognita als reiches Kulturland, das sich seinen Problemen stellt, eine neue Identität bildet und seit seiner Unabhängigkeit einen gewaltigen Weg zurückgelegt hat. Es besteht die Hoffnung, dass der nun angezettelte Krieg dies bei all seiner Tragik auf längere Zeit nicht verhindern kann.

