Zum 100. Geburtstag am 7. April 2022
Die Universitätsbibliothek Basel besitzt den Nachlass Annemarie Schimmels. Wichtigster Teil ist die reiche Korrespondenz mit über 30’000 an sie gerichteten Briefen in zahlreichen Sprachen. Annemarie Schimmel war eine unermüdliche Briefeschreiberin. Neben Fachkollegen, Schülern und Freunden aus aller Welt gehörten zu ihren Korrespondenten auch politische Persönlichkeiten.

Annemarie Schimmel war zweifellos in ihrer Zeit die bekannteste Vertreterin ihres Faches, die weit über das eigene Fach hinaus gewirkt hat, die einem interessierten Publikum die muslimische Welt erschlossen hat, und das nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern international. Auch das Fach selbst, wie es damals verstanden wurde, war ihr zu eng. Sie gab ihm einen weiten Horizont, dehnte es – bereits mit frühen Studien, – weit nach Osten, nach Pakistan und Indien aus. So hatte sie von 1967 bis 1992 den Lehrstuhl für «Indo-Muslim Culture» an der Harvard Universität inne.
Eine akademische Professorin traditionellen Zuschnitts war Annemarie Schimmel nie. Sie liebte die Gegenstände ihrer Forschung, die islamische Religion und die Kulturen der islamischen Welt, und warb mit großer Empathie um Verständnis für die Muslime und ihre Welt. Sie hat dadurch nicht nur der rationalen Seite, sondern auch einer emotionalen Seite in ihren Forschungen Gewicht verliehen, dominant dabei war ihre Liebe zur Schönheit. Eine der ihr gewidmeten Festschriften trägt als Titel das Prophetenwort «Gott ist schön und er liebt die Schönheit» und zollt damit dieser Liebe ihre Anerkennung. Annemarie Schimmels Liebe galt der eleganten Schönheit der arabischen Kalligraphie, jener bildhaften der Miniaturen, der klanglichen Schönheit orientalischer Musik. In gleicher Weise galt sie der Schönheit der gebundenen Rede in der Poesie, der Schönheit der Gestaltung, die sie schon als junges Mädchen erstrebte, indem sie Bücher entwarf und illustrierte, die sie später bei Fikrun wa Fann fand, der Zeitschrift, an der sie lange Jahre mit Albert Theile zusammen gearbeitet hat, inhaltlich und gestalterisch. Sie suchte die geistige Schönheit in ihrer Wahrnehmung der religiösen Literatur, mit Vorliebe in der Mystik, der Verehrung des Propheten, der Lebenswelt der Muslime und der islamischen Religion. Sie huldigte einer Ästhetik, die das Ganze als in sich ruhend erfasste.

Mag manchem diese Vorgehensweise nicht (mehr) zeitgemäss erscheinen oder gar weltfremd, weil er die notwendige Distanz zum Forschungsgegenstand vermisst, oder weil er sie für eine typisch weibliche Methode hält, für Annemarie Schimmel war sie stimmig, und sie steht damit in Goethescher Tradition, der in der Liebe ein wichtiges Erkenntnismittel sah, ja für den es keine vollständige Erkenntnis ohne Liebe gab, wie in der islamischen Mystik, wo der Herzensspiegel blank poliert werden muss, um aufnahmefähig zu werden für das höhere Wissen, und das Herz als Erkenntnisorgan den Verstand weit hinter sich lässt.

Die islamische Lebenswelt erschloss sich ihr nicht nur, wie es damals üblich war, am Schreibtisch durch unablässige Lektüren und Übersetzungen, sondern auch auf ihren vielen Reisen und durch ihre Aufenthalte in den Ländern des Nahen Ostens und des Subkontinents und – ganz früh schon – durch ihre jahrelange Lehrtätigkeit in Ankara. Sie tauchte ein in die Länder und in ihre Sprachen, in die Musik, die Literatur.
Annemarie Schimmel besass eine Zugewandtheit und damit eine Einfühlungsgabe in die Welt der islamischen Vorstellungen und der Menschen, die ihr die Verehrung und Hochachtung der Muslime zutrug. Sie hat sich der ganzen Lebenswirklichkeit der Muslime gewidmet, sie hat die Menschen, Vögel, Blumen, Katzen, Städte und Landschaften aus der Poesie entstehen lassen, hat sich in der Mystik Gestalten wie Rūmī und Ḥallāğ und Yunus Emre zugewandt, die immer noch in den Herzen der Gläubigen gegenwärtig sind, und sie hat den Propheten nie aus dem Mittelpunkt ihres Denkens und Schaffens entlassen. Abhold aller legalistischen oder gar verkrusteten dogmatischen Vorstellungen galt ihre Zuwendung dem lebendigen Islam.
Gudrun Schubert, Renate Würsch, Claudia Bolliger
