In der Basler Universitätsbibliothek ist ein unscheinbares Stück Pergament von gerade mal 8 x 10 cm Grösse erhalten. Auf der unbeschriebenen Rückseite zeigen sich Falzspuren und nachgedunkelte Stellen, die belegen, dass das Pergament offenbar ursprünglich relativ klein zusammengefaltet gewesen war auf ein Format von ca. 4 x 2,5 cm Grösse. Die beschriebene Seite überliefert ein deutschsprachiges Gebet, das in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde und das offenbar am Morgen gesprochen werden soll, wenn man sich für den Tag vorbereitet:
Ich wil hüt ufstan, ich wil in gotes namen hinnan gan, ich wil ich wil [sic] mich begürten mit den gocz worten mit den sigerin[g]en mit allen geweren dingen daz mir alles daz holt si das seint [sic] dem tage uf si dü sunne und ouech der mane krist selbe. Amen. Dü helle si mir verspert ölle waffen sin mir ver wert want alein eis daz sticht und sunit swa mans hin wist. Amen. | Ich will heute aufstehen, ich will mich in Gottes Namen fortbewegen, ich will mich umgeben mit Gottes Worten, mit den Panzern, mit allen wahrhaftigen Dingen, damit mir alles das gewogen sei, was seit dem [ersten] Tag da ist: die Sonne und auch der Mond, Christus selber. Amen. Die Hölle ist mir versperrt, alle Waffen sind mir verwehrt, denn nur etwas überzeugt und versöhnt wo auch immer man es hinzeigt. Amen. |


Wir verdanken die Kenntnisse der Geschichte dieses Pergamentstücks und damit auch dieses Gebets Wilhelm Wackernagel (1806-1869), aus dessen Besitz es 1857 in die Universitätsbibliothek gekommen ist. Wackernagel gibt an, dass das Pergament beim Abbruch des sogenannten Spalenschwibbogens 1838 aufgefunden worden war. Der Spalenschwibbogen war seit dem 13. Jahrhundert ein Tor zwischen der Spalenvorstadt und dem Leonhardsgraben, und er diente als Gefängnis. Die verschiedenen Gefängniszellen trugen Namen wie «der Saal», «Hexenkäfig» und «Eichenwald» – Letztere benannt nach dem Eichenholz, aus dem diese Zelle gefertigt worden war. Als der Spalenschwibbogen 1838 abgebrochen wurde, wurde im Gebälke des «Eichenwaldes» das gefaltete Pergamentstück mit dem Morgengebet gefunden. Dies gibt Anlass für weiterführende Überlegungen und Mutmassungen: Hat ein Gefangener es in der Zelle niedergeschrieben? Hat ein Besucher das Gebet ins Gefängnis gebracht, um Mut zu spenden für jeden neuen Tag? Bekommt die im Gebet verwendete Metaphorik von Rüstung und Waffen in diesem Zusammenhang eine konkrete Bedeutung? – Die Fragen lassen sich nicht beantworten, Spekulationen und Fantasien sind aber natürlich erlaubt. Fakt ist, dass der Eichenwald zur Zeitpunkt der Niederschrift des Gebets bereits als Gefängnis genutzt wurde. Das Pergamentstück dürfte also auf jeden Fall in einem direkten Zusammenhang damit stehen.

Es ist ein Glücksfall für die Überlieferung, dass das Pergamentstück beim Abbruch des Spalenschwibbogens an Wilhelm Wackernagel übergeben wurde und nicht einfach weggeworfen wurde oder verloren ging. Wackernagel wusste um die Bedeutung eines derartigen Fundstücks: Ursprünglich aus Berlin stammend, war Wackernagel seit 1833 Professor und der erste Lehrstuhlinhaber für Germanistik an der Universität Basel. Sein Bewusstsein für die Bedeutung von Sammlungen und Kulturgut zeigt sich unter anderem darin, dass er 1856 den Aufbau der sogenannten «Mittelalterlichen Sammlung» in Basel, die zur Vorgängerinstitution des Historischen Museums wurde, initiierte. Als Teil dieser Mittelalterlichen Sammlung legte er ab 1857 auch eine Sammlung von Textbruchstücken – sogenannten Fragmenten – an. In diese Sammlung, die bis heute auf der Universitätsbibliothek liegt und die den Grundstein zu einer mittlerweile sehr umfangreichen Fragmentensammlung von über 600 Handschriftenfragmenten legte, integrierte Wackernagel auch das kleine Pergamentstück mit dem Morgengebet. Es trägt heute die Signatur N I 1:98 und ist – wie alle Sonderbestände der Universitätsbibliothek – in unserem Sonderlesesaal einsehbar.
Monika Studer
Schöner Beitrag, danke!
Das Aquarell stammt aus der Zeit vor 1838. Die zitierte Abbildung auf Wikipedia geht auf das Original von J.J. Schneider zurück, ansehbar im Digitalen Lesesaal des Staatsarchivs (https://dls.staatsarchiv.bs.ch/records/98661).
Perfekt, vielen Dank für den Hinweis!